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Programmwirklichkeiten

Aktualisiert: 1. März 2023

In unserem Café 10001 vom 25.01.2023 haben wir uns mit dem Begriff des "Programms" beschäftigt und entwickelten Bezüge zum "guten alten" Fernsehen, zur Hippie-Kultur bis hin zur Künstlichen Intelligenz. Dazu der zusammenfassende Kommentar von N. Lehmann.

© 10001arts, Karen Oldenburg, Performance 1996

 

PROGRAMM

“Programm” ist ja nicht wirklich etwas, das uns normalerweise in unserer Wunderwelt als erstes in den Sinn kommt. Programm ist etwas Artifizielles und dementsprechend Beängstigendes. So wie der sich verselbstständigende Computer HAL9000 in Stanley Kubricks Film "2001 – Odyssee im Weltraum", wo er sich quasi vermenschlicht, indem er um seine eigene Existenz, seine Abschaltung bangt. Und so gibt es eigentlich seit dem Klassiker “1984” von George Orwell im Science Fiction-Genre nichts anderes als Dystopien. Dass dadurch hierzulande und auch im Rest von Europa kein Silicon Valley entstehen konnte, wundert wenig, und auch die allseits konstatierte Wissenschaftsfeindlichkeit ist dann so gesehen logisch. Die Dystopie hat eben einige furchterregende Brüder und entsprechende Konsequenzen. Das bedeutet anscheinend auch, dass jeder sich zunächst einmal befreien muss von der Kunst als Feld der Gefühle und Emotionen…


© 10001arts, Filminstallation 2022

KÜNSTLICHE INTELLIGENZ

Nun gibt es seit kurzem das Programm “Chat GP”, und das ist zu einigen erstaunlichen Dingen fähig. So kann Chat GP zum Beispiel blitzschnell einen Witz erzählen, mehrseitige wissenschaftliche Abhandlungen anfertigen oder Gedichte im Stil von Rainer Maria Rilke verfassen. Zwar erleben solche Programme die Welt nicht und haben natürlich kein Weltverständnis, aber das wird sich sicherlich zeitnah ändern. Vor allem im Hinblick darauf, was Bewusstsein ist und was es bedeutet, ein Gedächtnis und ein Verständnis von Zeit zu haben.

In der Wissenschaft bewirken solche Entwicklungen jetzt schon einen Paradigmenwechsel. Früher hat man probiert, eine Theorie aufzustellen und diese durch empirische Forschung zu testen. Heute aber nimmt man Daten, um Simulationen durchzuführen. Und letztlich können auch kreative Werke wie visuelle Kunst oder Musik künftig von KI erzeugt werden. KI kann jetzt schon aus verschiedenen Eingaben etwas Neues kreieren, während der Mensch erst eine Idee braucht, um daraus etwas zu entwickeln.

Ersetzt also diese künstliche Intelligenz den Menschen? Ersetzt der Rechner das Gehirn.? Und ist diese Angst vor dem Verlust des Körpers, diese Oper des Analogen, die als Minderheitenprogramm für ein deutlich überaltertes Publikum warnt, dann nicht die logische Folge, die uns in einen irreversiblen Kulturkampf zwingt, sich mit einer Kunst aus dem 17. Jahrhundert zu beschäftigen? Denn diese Kultur des Bildungsbürgertums, also der Ärzte, Beamte, Politiker, eben der Bürgerschicht, ist die Kultur der künstlerischen Laien, eben eines Publikums, das als Ärzte Kranke operiert, als Politiker Interessenskonflikte löst usw., also einfach von jenen, die sich von ihrem mehr oder weniger anstrengenden Berufen entspannen wollen, indem sie sich irgendeine Arie anhören, die sie dann in eine geriatrische Verzückung versetzt. Und all diese merkwürdigen Vergnügungen muss man in dieser Welt der Verschiedenartigkeit akzeptieren, aber es hat nichts und rein gar nichts mit der Zukunft zu tun, nichts mit Kreativität und nichts mit Kunst.


Family watching television, 1958 (USA), (wikipedia)


FERNSEHEN: Die Faktizität der Berechenbarkeit

Diese besprochene Angst, diese weit verbreitete Angst also vor dem Programm, vor einer Bestimmtheit von außen, die ja wiederum das Leben der meisten bestimmt, ist natürlich nicht zufällig. Eine weit verbreitete Reaktion auf diese sogenannte programmierte Realität war kulturell in den 70er und 80er Jahren die romantische Tendenz, “Alles” auf den Begriff des Spontanen und Unbeschwerten zu reduzieren. Und damit war eben nichts geplant und alles offen...und kein Programm bedeutete eben kein Programm.

Programme gibt es natürlich fast exemplarisch im Fernsehen. Dort wird uns von den Redaktionen ein Programm vorgesetzt, das wir gefälligst zu sehen haben. Das war zumindest die Realität bis vor gar nicht allzu langer Zeit, als das lineare Fernsehen seine Hochblüte erlebt hat. Fernsehen aber, und das ist neu, muss man sich eigentlich grundsätzlich gar nicht “antun”, das hat sich sozusagen durchgesetzt und das hat auch dieses mehr oder weniger fragwürdige Vergnügen letztlich in Frage gestellt. Die junge Generation hat uns vor Augen geführt, dass man eigentlich gar keine Zeit dafür hat, haben muss, sich zum Beispiel eineinhalb Stunden oder mehr in das Leben anderer einzuschalten. Man könnte eben überspitzt formulieren, das ist das Programm für jene, die kein eigenes haben. Es ist oft fleischgewordene Dummheit, denn man könnte da auch in einem sich selbstverachtenden Trend sich selbst und die Zeit totschlagen. Oder sich sozusagen in das Fernsehen wegwerfen. Vielleicht ist das überhaupt eine Sucht, sich außerhalb seines Selbst zu stellen.

Summa summarum ist das Fernsehen, also das real existierende Fernsehen, eigentlich in seiner naturgegebenen Einfältigkeit angekommen, und zwar dort, wo die Zeitschriftenlandschaft seit jeher schon gewartet hat, Stichwort “Regenbogenpresse”.


FERNSEHEN GOES RADIO

Das Radio hat sich aus Sicht der Aufmerksamkeit und Konzentration seit dem sogenannten Volksempfänger zu einem Berieselungsprogramm entwickelt. Heute gibt es nur wenige, die bewußt Radio hören. Man hört Radio bei der Arbeit, während des Joggens oder wo auch immer. Und es unterliegt eigentlich einer beiläufigen Aufmerksamkeit.

Nun wird das Fernsehen wohl zum Radio, das in vielen Haushalten permanent läuft, während gleichzeitig die Aufmerksamkeitsspanne und Konzentration auf das Programm deutlich abnimmt. Was bedeutet, es läuft quasi nebenbei, so dass Fernsehen mehr und mehr zu einem partiellen Unterhaltungselement wird. Man schaut nicht wirklich von Anfang bis zum Ende mit dem Effekt wie in den sozialen Medien alltäglich, dass das “Von-Anfang-bis-zum-Ende-Ansehen” zu einem Old-School-Auslaufmodell wird und damit zur weiteren Dekonstruktion des Fernsehens beiträgt. Vielleicht wird es den Altgedienten dann leichter fallen, nicht mehr bis zum enttäuschenden bitteren Ende ausharren zu müssen. Denn in der Tat, zwei Stunden oder mehr leblos im Sessel ausharren zu müssen, um ein fragwürdiges Finale zu erleben, ist etwas, seien wir uns doch ehrlich, was sich nicht allzu oft lohnt.


Stillleben, Johann Rudolf Feyerabend Dit Lelong gesehen bei Anticeo


Das PROGRAMM zur Abschaffung der Speisekarte

Das kulinarische Programm ist eines, das die Bezeichnung “Programm” wohl kaum verdient, denn es ist im Grunde genommen der allgemeinen gesellschaftlichen Diversität geschuldet. Denn so, wie es die Migrationsströme erwarten lassen, ist man sozusagen nun “international” oder “fusion”. Bis vielleicht auf eine bestimmte Art von Programm, das sogenannte “Regionale”, das wie beispielsweise in Italien da und dort sogar gänzlich ohne Speisekarte auskommen kann. Und was, wenn man gar nicht mehr die Wahl hat und alles in dem bäuerlichen Spruch gipfelt, “gegessen wird, was auf den Tisch kommt”? Auch das könnte ein Programm sein, das wenig bis gar nichts dem Zufall überlässt, aber ebenso wenig der Wahl des Gastes. Wie seinerzeit die Aristokratie, die ihre Menüfolgen noch nie einer Wahl überließ, sondern all das quasi nolens volens zu akzeptieren hatte. Das, was wir diesbezüglich der französischen Revolution zu verdanken haben, ist gewissermaßen, das Mittel der Wahl dem Volk zu überantworten. Seit dem hatte der einfache Bürger eine Wahl und musste nicht nur die Kartoffel essen, die ihm von der Aristokratie vorgesetzt wurde. Und all das ging mit den Segnungen der “großen Wahl”, der großen Auswahl einher. Denn wer frei ist, darf wählen oder wer wählen darf, ist frei.


Das PROGRAM "KUNST", das EIGENE

Ich habe nie wirklich etwas anderes gemacht außer Kunst, was den Verdacht nährt, dass es für jeden so eine Art Programm, so eine Art Wirklichkeit gibt, ebenso eine Programmwirklichkeit, die zu einer bestimmten Sprache führt.

In den 70er Jahren, in dieser aufgeregten Zeit, in der sich die Kunst wieder einmal von der Abbildfunktion gelöst hatte, in einer Zeit, in der die Avantgarde dominierte und sich die Kunst anschickte, einen komplett anderen Charakter zu haben, konnte man das Neue zu später Stunde auch im Kino erleben. Damals entdeckte man das Kino der Experimente, das sich auf der Leinwand zu kurzen Gedichten versammelt hatte. In dieser “avantgarde-geschwängerten" Atmosphäre brach man auf zu einem neuen gedachten Medium, einer Art Fortsetzung der Fotografie, in das Experiment des bewegten Bildes, Stichwort Expanded Cinema. Dieser kleine Kreis, der sich damals von Kunstort zu Kunstort bewegte, sehr individuell, sehr persönlich und sehr überzeugt, obwohl viele damit nichts anfangen konnten, war es, der den Nährboden und der Beginn für diese Form einer visuellen Sprache, die bis heute keinen Namen gefunden hat, bereitete.


© 10001arts, 10001 Skontos, (Musik: Leo Falkenbach-Steinbach)


Die kurze Form eines GEDICHTS

Wie es einem Poeten ansteht, der sich nur im Gedicht wiederfindet, wie bei Jandl, HC Artmann und so weiter, hat auch 10001fern.sehen das “Dramatische” im Werk ausgelassen. Ganz im Gegensatz zu vielen Dichtern, die sich der Erzählung, der Geschichte oder dem Theater verkauft haben. So haben wir dies sozusagen exemplarisch ausgeformt, bis zum Erfolgserlebnis. Denn so ein Gedicht, ein Haiku, ist mitunter schneller, einfacher und wahrhaftiger als ein ganzer Roman. Und es ist eine versteckte, aber eben auch durchaus kultivierte, künstlerische Kurzform, der wir uns da verschrieben haben, auch wenn es sich im Musikalischen in Strophen manifestiert. So schafft man es, die Genregrenzen zu sprengen und daher Verschiedenes in einem zu verbinden


Das Programm der molekularen HAIKU

In der Regel gibt es dafür bei Künstlern die Notwendigkeit, durch eine Ausstellung, ein Festival, ein Screening oder eine ähnliche Veröffentlichung, um auf sich aufmerksam zu machen. Dafür produziert man eigentlich als Künstler, außer man ist sich in seiner Selbstgefälligkeit und Begeisterung über das Medium selbst genug. Wenn also das Problem der zwingenden Veröffentlichung vom Tisch wäre, was ja im klassischen Film oder bei teuren Medienprojekten als “return of investment” unerlässlich ist, was dann, was wäre dann...?


© 10001arts, 10001 Rituals, (Musik: U.S.O.)


10001fern.sehen sendet unmittelbar im wahrsten Sinne des Wortes in den luftleeren Raum der Öffentlichkeit und das auch noch ohne einen zwingenden Verwertungsdruck. Wir verströmen auf diese Weise quasi gratis und frei Haus unsere Kunst. Und das folgt einer gewissen Aktualität, bei der das Material - wie in der Molekularküche - verschiedenen Verfahren unterzogen wird. So werden farbliche Experimente oder grafische Effekte eingesetzt, “Essenzen” oder Musik beigefügt und im Zuge eines “meditativen aristokratischen Rituals” im Unterschied zum real existierenden Fernsehen ohne Not gesendet. Ob nun Haikus über Zugfahrten, Weltbetrachtungen oder fiktive farbige Nachtsichten, sie alle werden punktgenau als “Menüfolge” serviert. Diese sehr hohe Eigenständigkeit und Präsentationsform ist völlig frei von irgendwelchen Faktizitäten, Sendeformaten und Zielgruppen, sondern folgt ausschließlich eigenen "Rezepturen”.

All diese Bilder bestimmen, was wir mit Programm assoziieren. Viele, ja die meisten, sind die der “Anderen”, die man für Alles und Alle vorbereitet hat, damit man sich auf dieser schönsten aller Welten nicht langweilt, damit nichts in Vergessenheit gerät, was nicht das geringste mit dem EIGENEN zu tun hat. Denn das ist die eigentliche Revolution, die noch bevorsteht, wenn wir erkennen würden, dass wir zumindest alle unser jeweils eigener FERNSEHDIREKTOR sind. Denn dann würde es sich lohnen, ein eigenes sehr persönliches Fernsehprogramm zu entwickeln, eines, in dem “persönlich” und “Programm” nicht so voneinander entfernt gesehen werden würde, eines, das man vielleicht noch erfinden wird müssen und das man dann einfach "fern.sehen" nennen könnte. Sofern es dieses dann in 10001 nicht schon gibt.


ex Lehmann Papiere


Soweit personenbezogene Bezeichnungen nur in männlicher Form angeführt sind, beziehen sie sich auf Männer und Frauen in gleicher Weise.



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