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Drama vs. Fragment: Kunst ohne Monumentalität

Peter Kubelka Vortrag und Hudigung im Rahmen der 50. Viennale Wien 2012 Artikel


Stückwerk statt Drama: Die Emanzipation der kleinen Form in Kunst und Küche

In unserer heutigen Zeit, in der das Streben nach Großem und Monumentalem die Kultur dominiert, stellt sich die Frage, warum das Drama als künstlerische Form eine solch zentrale Rolle einnimmt. Drama entfaltet sich in großformatigen Werken – sei es in der Kunst, der Literatur oder im Film. Es handelt sich oft um Werke, die nicht nur ästhetisch, sondern auch inhaltlich große Dimensionen beanspruchen, die mit Bombast, Pathos und dem Anspruch auf das Umfassende daherkommen. Aber warum diese ungebrochene Faszination für das Große, das Überwältigende? 

Es gibt jedoch eine Gegenbewegung, die den Blick auf das Kleine, das Fragmentarische und das Molekulare richtet. Diese Sichtweise widerspricht der monumentalen Dramaturgie und setzt auf die feine Verästelung des Details. Es ist eine Betrachtung, die Kunst und Küche in ungeahnte Nähe rückt. 


Die molekulare Strategie: Eine Kunst des Kleinen 

Die sogenannte „Molekularküche“ liefert ein ideales Beispiel für diese Bewegung. Sie repräsentiert nicht nur einen hochartifiziellen, sondern auch einen stark philosophischen Ansatz, der in die Kochgeschichte eine neue Dimension eingebracht hat. Hier geht es nicht mehr um große Gerichte oder üppige Menüs, sondern um die Feinheit der Aromen, die Präzision der Texturen und die wissenschaftliche Durchdringung des Kochvorgangs. Ein prominentes Beispiel ist die berühmte Erbse, die erst im Mund zerplatzt – ein kleines, molekulares Kunstwerk, das mit physikalischen und chemischen Mitteln neue Dimensionen des Genusses eröffnet. 

Die Molekularküche ist eine Strategie des „Small but Beautiful“: Kleine, perfekt komponierte Gerichte, die sowohl ästhetisch als auch geschmacklich herausragend sind. Sie steht damit in starkem Kontrast zur Tendenz des Großen und Monumentalen, die wir in der traditionellen Kunst und Kochkunst lange beobachtet haben. 


Gegenbewegungen in der Kunst 

Auch in der Kunst zeigt sich eine ähnliche Tendenz. Seit einiger Zeit gibt es eine kritische Auseinandersetzung mit dem großen, männlich dominierten Kunstverständnis, das sich in der Geschichte durchgesetzt hat. Feministische Perspektiven werfen zurecht die Frage auf, warum sich die Kunstgeschichte so stark auf Werke fixiert hat, die in Größe und Materialität beeindrucken. Diese „Herrenkunst“, die sich in monumentalen Skulpturen und ausufernden Gemälden ausdrückt, steht immer wieder im Zentrum der Kritik. 

Das Drama dieser Kunstform, der Drang nach dem Großen, dem allumfassenden Werk, kann auch als eine männlich geprägte Erweiterungssucht verstanden werden. Große Opern, wie die von Richard Wagner, mit ihrer epischen Länge und ihrem pathetischen Inhalt, symbolisieren dieses Streben nach Überwältigung. Das Bedürfnis, das Publikum in eine ausufernde Erzählung einzuspinnen, ist Teil dieser dramatischen Kunstform, die oft mehr den Wunsch nach Macht und Kontrolle über das Publikum als eine echte künstlerische Reflexion des Lebens ausdrückt. 


Das Konsistente Werk als Mythos 

In unserer Gesellschaft wird von Kunstschaffenden häufig ein konsistentes, abgeschlossenes Werk verlangt – sei es ein Buch, ein Film oder eine Ausstellung. Es geht darum, eine kohärente Welt zu erschaffen, die das Publikum für eine gewisse Zeit aus dem Alltag entführt und in eine andere Realität versetzt. Doch nicht alle Künstlerinnen und Künstler wollen oder können diesem Anspruch gerecht werden. 

Die Fixierung auf das „große Werk“ führt oft dazu, dass kleinere, fragmentarische Arbeiten nicht die gleiche Anerkennung finden. Die Kunst der kleinen Form, des Skizzenhaften und Unfertigen, wird in vielen Fällen als unzureichend oder unfertig abgetan. Dabei birgt gerade das Fragmentarische, das Stückwerk, eine eigene Qualität, die der dominierenden Vorstellung vom konsistenten Werk entgegensteht. 


Stückwerk als bewusste Strategie 

In der bildenden Kunst hat sich schon längst eine Gegenbewegung zum „großen Werk“ etabliert. Viele Künstlerinnen und Künstler arbeiten bewusst mit Fragmenten, mit kleineren, nicht abgeschlossenen Arbeiten, die für sich stehen oder sich zu einer offenen Serie zusammensetzen lassen. Diese Strategie erlaubt es, dem experimentellen Charakter der Kunst gerecht zu werden, ohne den Anspruch auf ein allumfassendes Werk zu erheben. 

Stückwerk wird oft unter dem Generalverdacht des Dilettantismus betrachtet. Doch gerade in der Zerstreuung und der Vielschichtigkeit liegt eine besondere Qualität, die es zu entdecken gilt. Die molekulare Strategie in der Kunst – ebenso wie in der Küche – zelebriert das Kleine, das Präzise, das Feine. Es ist eine Kunstform, die sich dem Drama der großen Form verweigert und stattdessen auf das fragmentarische Erleben setzt. 


Die Fallstricke der Monumentalisierung 

Das Bedürfnis nach großen Werken ist tief in unserer Kultur verankert. Die Vorstellung, dass ein Künstler oder eine Künstlerin irgendwann „groß herauskommt“, ist ein kriegerisches Bild, das das Werk als eine Art Waffe begreift, die ihre Wirkung auf das Publikum entfalten soll. Es geht darum, einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen, das Publikum mit einem Werk zu überwältigen, das in seiner Größe und Bedeutung konkurrieren kann. 

Dieses Streben nach dem großen Werk birgt jedoch auch Gefahren. Viele Kunstschaffende verlieren sich in der Monumentalisierung ihrer eigenen Projekte. Sie sehen sich gezwungen, Themen wie etwa große Reisen – nach Amerika, Indien oder Afrika – in umfassende Werke zu gießen, die dann in ihrer Dimension erdrückend wirken. Doch das ist nicht der Weg aller Künstlerinnen und Künstler. Viele arbeiten bewusst mit dem kleinen Format, mit Fragmenten, die sich erst in der Gesamtschau zu einem vielschichtigen Werk zusammenfügen. 


Eine neue Qualität des Stückwerks 

In der heutigen Kunstszene zeigt sich eine deutliche Hinwendung zu fragmentarischen, experimentellen Arbeiten, die bewusst auf das große Drama verzichten. Diese Kunst ist flüchtig, sie entwickelt sich weiter, sie ist nicht auf den Verkauf eines abgeschlossenen Werks ausgerichtet. Das Konzept des konsistenten, „fertigen“ Kunstwerks steht hier nicht im Vordergrund. Vielmehr wird die Arbeit als Prozess, als Entwicklung verstanden – als etwas, das sich verändert und niemals ganz abgeschlossen ist. 

Gerade in der Videokunst zeigt sich diese Entwicklung deutlich. Es geht nicht mehr darum, einen Film im klassischen Sinne zu produzieren, sondern um kurze, fragmentarische Videostücke, die sich zu einem offenen Ganzen fügen. Jean-Luc Godard stellte in einem Seminar einst die ketzerische Frage, warum es keine Filmstücke gibt, wenn es doch Musikstücke gibt. Die Antwort der Filmindustrie lautet: Film ist Unterhaltung, ein konsumierbares Produkt, das sich nicht um künstlerische Fragen scheren muss. Doch diese Auffassung teilt längst nicht mehr jede Kunstproduktion. 


Eine flüchtige Kunst 

Die Kunst der Zukunft liegt nicht im monumentalen Werk, sondern im Fragment, im Molekularen, im Kleinen. Diese Kunst ist eine, die sich weiterentwickelt und nicht auf den Verkauf eines „fertigen“ Produkts abzielt. Sie ist flüchtig, sie verändert sich und verweigert sich der endgültigen Vereinnahmung. Das bedeutet auch, dass sie schwieriger zu vermarkten ist, weil sie sich nicht in abgeschlossenen Bildern oder Werken manifestiert. 

Das Drama mag die Köpfe vernebeln, aber die molekulare Strategie eröffnet neue Wege, um Kunst und Küche in einem neuen Licht zu sehen. Diese Kunst feiert das Fragment, das Unfertige, und setzt sich bewusst vom konsistenten Werk ab. Sie ist ein Zeichen des Aufbruchs, der sich nicht den klassischen Erzählformen oder dem monumentalen Anspruch unterordnet. Stattdessen wird das Stückwerk zur neuen Qualität – zu einer Kunst des Kleinen, die sich der Großartigkeit des Dramas widersetzt. 

Es ist eine stille Revolution, die in ihrer Feinheit und Präzision den Weg für eine neue künstlerische Ausdrucksform ebnet. 


Nicolas Oldenburg, DIE BIBLIOTHEKARE



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